Richter 06 by Gulik
Autor:Gulik
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: General Fiction
veröffentlicht: 2013-02-04T05:00:00+00:00
Zwölftes Kapitel
Richter Di stattet dem Medizinhügel einen Besuch ab; eine Frau widersetzt sich den Befehlen des Gerichts.
Sobald sich die Tür hinter dem Leichenbeschauer geschlossen hatte, warf Richter Di das Dokument auf den Schreibtisch. Er verschränkte seine Arme und versuchte vergeblich, Klarheit in die wirren Gedanken zu bringen, die ihm im Kopf herumgingen.
Schließlich erhob er sich und zog seine Jagdkleidung an. Ein bißchen Bewegung würde ihm vielleicht helfen, klarer zu sehen. Er befahl dem Stallknecht, ihm sein Lieblingspferd zu bringen und ritt davon.
Zuerst galoppierte er ein paarmal um den ehemaligen Exerzierplatz herum. Dann bog er in die Hauptstraße ein und verließ die Stadt durch das Nordtor. Er lenkte sein Pferd in langsamem Gang durch den Schnee bis zu der Stelle, wo die Straße den Hügel hinab und in die weite weiße Ebene führte. Er sah den bleiernen Himmel, es schien wieder schneien zu wollen.
Auf der rechten Seite markierten zwei große Steine den Beginn des schmalen Pfades, der zu der Felsklippe hinaufführte, die als Medizinhügel bekannt war. Der Richter beschloß, dort hinaufzusteigen und nach dieser körperlichen Ertüchtigung nach Hause zurückzukehren. Er ritt den Pfad entlang, bis dieser in einen steilen Anstieg überging, und saß dann ab. Er tätschelte seinem Pferd den Hals und band die Zügel an einem Baumstumpf fest.
Er wollte gerade losgehen, als er plötzlich stutzte. Da waren frische kleine Fußabdrücke im Schnee. Er kämpfte mit sich, ob er weitergehen sollte. Schließlich zuckte er die Achseln und begann den Aufstieg.
Die Spitze der Felsklippe war kahl bis auf einen einzelnen Baum, eine Winterpflaume. Ihre schwarzen Zweige waren mit kleinen roten Knospen bedeckt. In der Nähe der hölzernen Balustrade am anderen Ende der Klippe grub eine Frau in einem grauen Pelzmantel mit einem Hohlspatel im Schnee. Als sie das Knirschen des Schnees unter Richter Dis schweren Stiefeln vernahm, richtete sie sich auf. Rasch legte sie den Spatel in den Korb zu ihren Füßen und verneigte sich tief.
»Ich sehe, Sie sammeln das Mondkraut«, sagte der Richter.
Frau Kuo nickte. Die Pelzhaube brachte in bewundernswerter Weise ihr zartes Gesicht zur Geltung.
»Ich hatte nicht viel Glück, Euer Ehren«, erwiderte sie lächelnd, »ich habe nur die paar da gefunden!« Sie deutete auf das Pflanzenbündel im Korb.
»Ich kam hier hoch, um mir ein bißchen Bewegung zu verschaffen«, sagte Richter Di. »Ich wollte ein wenig Klarheit in meine Gedanken bringen, denn der Mord an Meister Lan bedrückt mich sehr.«
Frau Kuo machte plötzlich ein betroffenes Gesicht. Während sie ihren Umhang enger um sich zog, murmelte sie:
»Es ist unglaublich! Er war so stark und gesund!«
»Selbst der stärkste Mensch ist gegen Gift wehrlos!« bemerkte der Richter trocken. »Ich habe einen eindeutigen Anhaltspunkt bezüglich der Person, die diese heimtückische Tat beging.«
Frau Kuos Augen weiteten sich.
»Wer war der Mann, Euer Ehren?« fragte sie mit kaum hörbarer Stimme.
»Ich habe nicht gesagt, daß es ein Mann war!« sagte Richter Di rasch.
Sie schüttelte langsam ihren kleinen Kopf.
»Es muß einer gewesen sein!« sagte sie bestimmt. »Ich habe den Meister oft gesehen, weil er ein Freund meines Mannes war. Er war immer sehr freundlich und liebenswürdig, auch zu mir, dennoch war deutlich zu spüren, daß seine Haltung gegenüber Frauen … anders war.
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